ARBEITSLOSIGKEIT, LOHNHæHE UND TARIFVERHANDLUNGSSYSTEME 1. PROBLEMSTELLUNG

    In den meisten europÄischen LÄndern ist Arbeitslosigkeit seit Mitte der 70er Jahre ein dauerhaftes Problem. In Rezessionszeiten wurde die BeschÄftigung erheblich verringert und in guten konjunkturellen Phasen nur in geringem Ausmaú wieder erhÆht. So entstand ein von Konjunkturzyklus zu -zyklus steigender Sockel an Arbeitslosigkeit. Obwohl dieses Grundmuster weit verbreitet ist, ist die HÆhe dieses Sockels allerdings zwischen den LÄndern recht verschieden (OECD 1997). Die Ursachen fÝr diese Art von struktureller Arbeitslosigkeit werden in der Literatur kontrovers diskutiert. HÄufig werden MÄngel im Lohnbildungsprozess dafÝr verantwortlich gemacht, dass flexible Anpassungen an neue Situationen unterbleiben. In diesem Beitrag soll daher untersucht werden, ob durch eine Reform der Institutionen der Lohnbildung eine Verringerung der Arbeitslosigkeit erreicht werden kann (vgl. auch Gerlach/Meyer 1995).

1. Theoretische Analyse der Wirkungen von alternativen Tarifverhandlungssystemen

    In theoretischen Analysen der makroÆkonomischen Wirkungen verschiedener Tarifverhandlungssysteme werden meist drei verschiedene Typen behandelt:

• Dezentralisierte Systeme, in denen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern auf Firmenebene verhandelt wird.
• IntermediÄre Systeme, die durch Verhandlungen auf regionaler bzw. sektoraler Ebene gekennzeichnet sind.
• Zentralisierte Systeme, in denen die Verhandlungen fÝr die gesamte Volkswirtschaft gefÝhrt werden

    Die Diskussion Ýber die Wirkungen der verschiedenen Verhandlungssysteme auf LohnhÆhe und BeschÄftigung wurde lange Zeit von zwei extremen Sichtweisen geprÄgt. Nach dem liberal-marktwirtschaftlichen Ansatz sind dezentralisierte Arbeitsmarktstrukturen und betriebsnahe Lohnbildung am gÝnstigsten. Weitergehende Regulierungen verringern den Wettbewerb zwischen den ArbeitskrÄften und koppeln die LÆhne von den lokalen Angebots-Nachfrage-VerhÄltnissen ab. Eine Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation ist die Folge. Dem steht der korporatistische Ansatz diametral gegenÝber. Moderate LohnabschlÝsse und hohe BeschÄftigung ergeben sich demnach bei konsensorientierten zentralisierten Verhandlungen, weil dann die Gewerkschaften die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen ihres Handelns ins KalkÝl ziehen.
    Beide AnsÄtze postulieren einen linearen Zusammenhang zwischen Zentralisierungsgrad und makroÆkonomischen Erfolgen, wenn auch mit unterschiedlichem Vorzeichen. Diese Sichtweise wurde durch den einflussreichen Artikel von Calmfors/Driffill (1988) in Frage gestellt, der auf der Basis eines „Right-to-manage-Modells" fÝr eine geschlossene Volkswirtschaft eine buckelfÆrmige Beziehung (hump shape hypothesis) herleitete: In dezentralisierten und in zentralisierten Systemen ergibt sich eine niedrige Arbeitslosigkeit verglichen mit der Situation in intermediÄren Systemen.
    Die gÝnstige Situation im dezentralen System ergibt sich bei vollkommener Konkurrenz auf dem GÝtermarkt vor allem deshalb, weil die einzelnen Unternehmen keine PreisÝberwÄlzungsspielrÄume haben. NominallohnerhÆhungen fÝhren dann auch zu ReallohnerhÆhungen, welche mit relativ groúen BeschÄftigungseinschrÄnkungen von den Unternehmen beantwortet werden. Damit sind die OpportunitÄtskosten der LohnerhÆhung fÝr die Gewerkschaften hoch und sie werden nur moderate Lohnsteigerungen abschlieúen.
    Die gÝnstige Situation bei zentralisierten AbschlÝssen beruht auf einer Internalisierung verschiedener externer Effekte. Wird fÝr die gesamte Volkswirtschaft verhandelt, dann ist den Gewerkschaften klar, dass LohnerhÆhungen die nicht durch ProduktivitÄtssteigerungen abgedeckt sind, zu Preissteigerungen fÝhren. Die gewÝnschten Reallohnverbesserungen sind nur in geringem Ausmaú oder gar nicht zu erreichen. Moderate LohnerhÆhungen kÆnnen sich nicht nur aufgrund von PreisexternalitÄten ergeben. Calmfors (1993) nennt folgende weitere MÆglichkeiten:
    Inputpreis-ExternalitÄt, fiskalische ExternalitÄt, ArbeitslosigkeitsexternalitÄt, InvestitionsexternalitÄt, EffizienzlohnexternalitÄt und NeidexternalitÄt.
    In all diesen FÄllen fÝhren hÆhere LÆhne indirekt zu Wohlfahrtseinbuúen, die bei zentralisierten Strukturen im VerhandlungskalkÝl berÝcksichtigt werden.
    IntermediÄre Systeme sind dadurch gekennzeichnet, dass der erstgenannte LohndÄmpfungseffekt (hohe OpportunitÄtskosten) nicht mehr und der zweitgenannte (Internalisierung) noch nicht wirksam ist. Daher resultieren hohe LohnabschlÝsse und geringe BeschÄftigung.
    Das eben skizzierte Modell vernachlÄssigt vor allem den Einfluss auúenwirtschaftlicher Faktoren. Die Argumentation im Rahmen einer geschlossenen Volkswirtschaft ist im Zeitalter der Globalisierung sehr problematisch. FÝr die Ableitung der Buckelkurve spielen die RÝckwirkungen der LÆhne auf die Preise eine entscheidende Rolle. Diese verÄndern sich, wenn zusÄtzlich internationale Konkurrenten am GÝtermarkt vorhanden sind. Bei plausiblen Modellkonstruktionen ergibt sich dann eine Abflachung der Kurve, wobei diese umso stÄrker ausfÄllt, je grÆúer das Ausmaú der Integration der betrachteten LÄnder ist. Im Modell von Rama (1994) ergibt sich sogar eine lineare Beziehung entsprechend dem korporatistischen Ansatz.
    Im Modell ist auch nicht berÝcksichtigt, dass die Lohnbildung in einem mehrstufigen Prozess erfolgen kann. Zentralisierte Systeme sind hÄufig dadurch gekennzeichnet, dass auf lokaler Ebene nach Abschluss der zentralen TarifvertrÄge zusÄtzlich verhandelt wird. In Deutschland ist dies z.B. weit verbreitet (Meyer 1997). Je nach Konstellation kann dies entweder zu einer Verbesserung oder Verschlechterung der Systemeigenschaften fÝhren.

2. International vergleichende empirische Analysens

    Die meisten empirischen Studien zum Zusammenhang von Tarifverhandlungssystemen und makroÆkonomischem Erfolg sind als international vergleichende Querschnittsuntersuchungen angelegt. Eine zusammengefasste Darstellung findet sich z.B. bei der OECD (1997). Mit Hilfe von Rangkorrelationsanalysen o.Ä. Methoden werden Richtung und StÄrke der Beziehung zwischen einem Indikator zur Kennzeichnung des Verhandlungssystems und makroÆkonomischen ZielgrÆúen gemessen. Unterschiede ergeben sich sowohl hinsichtlich des verwendeten Zentralisierungsindikators als auch hinsichtlich der ZielgrÆúe. Als makroÆkonomische ErfolgsgrÆúe wird entsprechend der Problemstellung vor allem die Arbeitslosenquote oder ihr Komplement, die BeschÄftigungsquote, herangezogen. Aufgrund der Zielkonkurrenz zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation ist es denkbar, dass die Arbeitslosigkeit zu Lasten der Inflation niedrig gehalten wird. Sieht man das nicht als Erfolg an, empfiehlt es sich, einen Misery-Index, gebildet aus der Summe von Arbeitslosenquote und Inflationsrate, als Indikator zu wÄhlen. ErgÄnzend werden auch das reale Wirtschaftswachstum oder das Ausmaú an Einkommensungleichheit herangezogen.
    Eine Ähnliche Vielfalt gibt sich auch bei der GrÆúe, die das Verhandlungssystem charakterisieren soll. Es ist zum einen strittig, ob der Zentralisierungsgrad die zentrale MessgrÆúe ist und durch welche Sachverhalte sie erfasst wird. Zum anderen ist die Klassifizierung der LÄnder in den einzelnen Studien unterschiedlich, weil manche Merkmale nur anhand qualitativer Indikatoren gemessen werden kÆnnen. So ist z.B. strittig, ob die Schweiz eher Ýber ein dezentralisiertes oder ein zentralisiertes Verhandlungssystem verfÝgt. Auch die Einordnung von Deutschland ist nicht ganz einfach. Aufgrund der Dominanz von regionalen BranchentarifvertrÄgen wird es meist zu den intermediÄren Systemen gezÄhlt. Bedenkt man allerdings die Existenz der Lohndrift, als Ergebnis von lokalen Nachverhandlungen, kommt eine dezentrale Komponente hinzu. Dem steht allerdings entgegen, dass die einzelnen Branchenverhandlungen nicht unabhÄngig voneinander ablaufen, sondern LohnfÝhrer-Lohnfolger-Beziehungen (Meyer 1995) bestehen.
    Genauso vielfÄltig wie die Messprobleme sind auch die Ergebnisse der empirischen Analysen. Wird vor allem der Zeitraum der 70er und 80er Jahre betrachtet, dann scheinen zentralisierte Systeme tendenziell gÝnstigere Arbeitsmarktbedingungen zu schaffen als die beiden anderen. Allerdings ist es denkbar, dass die gÝnstige makroÆkonomische Situation nicht Ýber LohnzurÝckhaltung sondern Ýber andere Sachverhalte wie z.B. eine aktive Arbeitsmarktpolitik herbei gefÝhrt wird. Erweitert man die bivariate zur multivariaten Analyse und kontrolliert fÝr eine Reihe von anderen Einflussfaktoren der Arbeitslosigkeit, wie es z. B. Layard/Nickell/Jackman (1994) tun, dann wird bestÄtigt, dass Koordination innerhalb der Gewerkschaften und der ArbeitgeberverbÄnde die Arbeitslosigkeit senkt. Zieht man auch die 90er Jahre in die Analyse ein, lÄsst sich kaum noch gesichertes sagen (OECD 1997). Korporatistische LÄnder haben wohl ein geringeres Ausmaú an Lohnungleichheit als dezentral organisierte, aber in welchem Zusammenhang dies zum Arbeitsmarkterfolg steht, ist wieder umstritten.
    Ein weiteres Problem des Querschnittsansatzes besteht darin, dass die Zahl der FÄlle bei internationalen Vergleichen verhÄltnismÄúig klein ist. Dies wiegt schwer, weil die Reihe der potentiellen Einflussfaktoren des makroÆkonomischen Erfolgs gleichzeitig sehr groú ist. Fitzenberger/Franz (1994) versuchen das Problem dadurch zu umgehen, dass sie auf der Basis von Zeitreihen fÝr verschiedene LÄnder sektorale LohnÄnderungsfunktionen schÄtzen und die geschÄtzten Parameter im Licht der Zentralisierung-Dezentralisierungs-Diskussion interpretieren. Da Ýber alle LÄnder hinweg die Lohnanpassungen gleichartig sind, die Lohnbildungsinstitutionen aber unterschiedlich, schlieúen die Autoren, dass kein klarer Zusammenhang zwischen Zentralisierungsgrad, Lohnbildung und geringer Arbeitslosigkeit besteht.

3. Zusammenfassung

    In wirtschaftspolitischen Diskussionen werden MÄngel im Lohnbildungsprozess hÄufig fÝr die anhaltende Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht. Meist wird diese Diagnose mit der Empfehlung zur Dezentralisierung verbunden, aber auch „BeschÄftigungspakte" oder „Sozialkontrakte", d. h. korporatistische Strukturen, werden befÝrwortet. Theoretisch kÆnnen beide TherapievorschlÄge mit dem Modell von Calmfors/Driffill (1988) begrÝndet werden. Wichtig ist es hiernach vor allem, dass man von der mittleren Verhandlungsebene weg kommt, da diese die schlechtesten Ergebnisse hervorbringt. Empirische Analysen zeigen dies aber nicht so deutlich. Es scheint eher so, dass der Einfluss des isolierten Faktors „Verhandlungsebene" geringer ist, als allgemein behauptet wird.

Literatur

• Calmfors, L. (1993): Centralisation of Wage Bargaining and Economic Performance: A Survey. OECD Economics Departement Working Papers No. 131.
• Calmfors, L. und J. Drifill (1988): Bargaining structure, corporatism and macroeconomic performance. Economic policy, S. 14-61.
• Fitzenberger, B. und W. Franz (1994): Dezentrale versus zentrale Lohnbildung in Europa: Theoretische Aspekte und empirische Evidenz. In: B. Gahlen, H. Hesse, H.J. Ramser (Hrsg.): EuropÄische Integrationsprobleme aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht, TÝbingen, S. 321-354.
• Gerlach, K. und W. Meyer (1995): Tarifverhandlungssysteme, LohnhÆhe und BeschÄftigung.
• Layard, R., S. Nickell und R. Jackman (1994): The unemployment crisis. Oxford.
• Meyer, W. (1995): Is Pattern Bargaining Dead? An Empirical Investigation with Micro Data for West Germany, in: Konjunkturpolitik 41, 1995, S. 228-243.
• Meyer, W. (1997): The Wage Gap in Manufacturing in Germany: Size and Determinants, in: Labour - Review of Labour Economics and Industrial Relations 11, 1997, S. 561-577.
• OECD (1997), Employment outlook, Paris.
• Rama, M. (1994): Bargaining structure and economic performance in the open economy. European Economic Review, S. 403-415.